Donnerstag, 9. Oktober 2008

Es ist als trüge ich ein Kind auf Schultern

Es ist als trüge ich ein Kind auf Schultern.

Durch Fluten vergangenen Lebens, durch hohe Wasser früherer Existenzen. Und da die Wellen höher werden, der Pegel steigt, so lasse ich ab vom sanften Halt, den ich dem Kind zu meinen Schultern durch unsere ineinander greifenden Hände gab und erfasse seine Fußgelenke. Die Angst, sie wächst und mein Griff wird härter. Das Kind beginnt sehr leise zu klagen, es jammert und weint, doch sein lautes Leid kann meine in mir ruhende Angst nicht vertreiben. Meine Umklammerung wird immer stärker, das Kind schlägt nun mit seinen Fersen gegen meine Brust, es schreit und tobt. Ich muss mich bemühen, dieser Kraft standzuhalten.

Während ich hin- und hergeschüttelt werde, stapfe ich weiter durch die Endlosigkeit der Fluten. Das Kind versteht nicht. Es kann nicht verstehen.

Und da passiert es. Meine Kräfte versagen. Zu lange hielt ich die dünnen Gelenke umklammert, Starrheit ergriff meine Finger. Nur einen Augenblick lang versagte meine Konzentration, doch als ich erneut hätte zufassen können, da war es bereits passiert: sein heftiges Toben hatte dem Kind bereitet, wonach es sich seit Minuten sehnte. Nein, vielmehr hatte es dem Kind genommen, wovon es sich befreien wollte: meine Kraft.

Ich spürte die plötzliche Erleichterung, meine Schultern richteten sich jubilierend auf in neu gewonnener Freiheit. Da trieb es, das Kind, langsam, doch unhaltbar, hinfort in den Fluten. Es selbst war erschrocken, dann sofort ängstlich. Wie ungerecht, dass es nicht mal für einen Moment sich befreit fühlte, meiner Gewalt entkommen.

Ich stand. Und sah es in der Ferne. Hilflos schreiend.

Da erfasste mich die nächste Welle, schlug mich gegen einen Felsen aus purem Stein. Mit zwinkernden Augen auftauchend erkannte ich, wie das Kind seine Seele aufgab und verschied, absinkend auf den Grund.

Schlimm war nicht sein Tod. Gekannt, geliebt und verloren war erträglicher als verloren, ohne gefühlt zu haben.

Das Schlimme war sein letzter Blick: seine Augen, die voll Wut und Zorn auf mich blickten. Da ich es nicht geschafft hatte, es trotz seiner infantilen Reaktion zu halten, auf meinen Schultern.

(Susanne, 2007. MFG)

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